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Der Vertrauensgrundsatz im Verkehrsrecht - Urteil des Bundesgerichtshofs vom 04.04.2023 (VI ZR 11/21)

Mit seinem Urteil vom 04.04.2023 (VI ZR 11/21) hat der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zum Vertrauensgrundsatz erweitert.

Der Vertrauensgrundsatz ist ein von der Rechtsprechung entwickeltes rechtliches Prinzip, welches darauf beruht, dass jeder Verkehrsteilnehmer, welcher sich ordnungsgemäß im Straßenverkehr verhält, darauf vertrauen darf, dass sich auch die anderen Verkehrsteilnehmer an die geltenden Verkehrsregeln halten und sich verantwortungsvoll im Straßenverkehr bewegen.

Dieser Grundsatz gilt für alle Verkehrsteilnehmer - unabhängig davon, ob sie als Autofahrer, Fußgänger, Radfahrer im Straßenverkehr teilnehmen.

So kann sich zum Beispiel ein Vorfahrtsberechtigter nach dem Vertrauensgrundsatz darauf verlassen, dass ein für ihn nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer seine Vorfahrtsrechte beachten wird, wenn er selbst mit angepasster Geschwindigkeit fährt (vgl. z. B. OLG Hamm vom 09.06.2020 – 7 U 19/19). Ebenso darf bei der Konstellation „rechts vor links“ der Vorfahrtsberechtigte nach dem Vertrauensgrundsatz normalerweise darauf vertrauen, dass ein Fahrzeug, dass sich von links nähert, rechtzeitig vor der Einmündung anhalten wird (vgl. z. B. OLG Karlsruhe vom 12.01.2012 – 9 U 169/10).

Grundsätzlich besagt der Vertrauensgrundsatz demnach, dass kein Autofahrer mit einem rechtswidrigen oder unvorsichtigen Verhalten eines anderen Straßenverkehrsteilnehmers rechnen muss.

Ausgenommen von diesem Grundsatz sind gemäß § 3 Abs. 2 a StVO Kinder, Hilfsbedürftige und ältere Menschen.

Mit seiner Entscheidung vom 04.04.2023 stellt der BGH nunmehr jedoch klar, dass der Vertrauensgrundsatz jedoch nicht bedingungslos gilt.

So hat der BGH hervorgehoben, dass der Vertrauensgrundsatz nur dann gilt, wenn die offensichtliche Verkehrssituation keine andere Beurteilung erfordert.

Im streitgegenständlichen Fall ging es darum, dass ein Fußgänger eine durch eine Mittellinie getrennte Fahrbahn mit jeweils einem Randstreifen und einer Breite von 12,5 m überquerte, während der Fahrzeugführer die Fahrbahn auf dem dafür vorgesehenen rechten Fahrstreifen befuhr, während der Fußgänger von dem aus der Fahrtrichtung des Fahrzeugführers gesehenen linken Gehweg aus begann, zu Fuß die Fahrbahn zu überqueren. Nach Erreichen des vom Fahrzeug genutzten Fahrstreifens kam es sodann zur Kollision zwischen dem Fußgänger und dem Fahrzeugführer, wodurch der Fußgänger erheblich verletzt wurde.

Der BGH kam in seiner Entscheidung zu dem Ergebnis, dass sich ein Verkehrsteilnehmer – im zu entscheidenden Fall der Fahrzeugführer – nur dann auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann, solange die sichtbare Verkehrslage zu keiner anderen Beurteilung Anlass gibt. Zugleich vertrat der BGH die Ansicht, dass der Fahrzeugführer dabei grundsätzlich auch bei breiten Straßen verpflichtet ist, die gesamte Straßenfläche vor sich zu beobachten. Dementsprechend muss ein Fahrzeugführer am Fahrbahnrand befindliche oder vor ihm die Fahrbahn überquerende Fußgänger im Auge behalten und in seiner Fahrweise erkennbaren Gefährdungen Rechnung tragen.

Im streitgegenständlichen Fall entschied der BGH, dass der Fahrzeugführer, da der Fußgänger die Fahrbahn bereits betreten hatte und sich noch in Bewegung befand, nicht darauf vertrauen durfte, der Fußgänger werde in der Mitte der Fahrbahn stehenbleiben und ihn vorbeilassen.

Aufgrund dessen konnte ein Verschulden des Fahrzeugführers vom erstinstanzlichen Gericht und Berufungsgericht nicht ausgeschlossen werden, weshalb der BGH die Sache zur neuen Verhandlung an das Berufungsgericht zurückverwies.

Als Fazit bleibt damit festzuhalten, dass Verkehrsteilnehmer stets vorsichtig und aufmerksam sein sollten und bei Wahrnehmung eines unvorsichtigen Verhaltens anderer Verkehrsteilnehmer unverzüglich reagieren und entsprechende Maßnahmen ergreifen sollten, um einen Unfall zu verhindern.

Darauf zu vertrauen, dass sich der andere Verkehrsteilnehmer regelkonform verhalten wird, kann hier schnell zu einer Haftung führen.